Pressemeldung der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V.
Oberursel, 4. Januar 2016. Eine wohnortnahe schmerzmedizinische Versorgung ist in Deutschland ein frommer Wunsch. Patientenvertreter, Schmerzexperten und Vertreter des Deutschen Hausärzteverbands forderten auf dem „Nationalen Versorgungsforum Schmerz“ am 12. November 2015 in Berlin eine abgestufte, ambulante, freiberufliche Versorgung mit einer ausreichenden Zahl an Schmerzmedizinern, klar definierten Schnittstellen und einer systematischen Bedarfsplanung.
„Für die über 2,8 Millionen schwerst schmerzkranken Patienten ist die Versorgung in Deutschland völlig unzureichend. Es gibt in unzähligen Regionen schwarze Löcher, in denen keine adäquate Versorgung stattfindet“, konstatierte die Vizepräsidentin der Deutschen Schmerzliga (DSL) Birgitta Gibson. Nötig seien deutlich mehr Schmerzmediziner und eine bessere geographische Verteilung der therapeutischen Angebote: „Schmerzmediziner müssen wohnortnah erreichbar sein, und nicht 20 oder mehr Kilometer entfernt. Manchen Schmerzpatienten wird heute zugemutet, dass sie 200 Kilometer fahren. Das geht so nicht.“
Defizite auf allen Versorgungsebenen
Dipl. med. Ingrid Dänschel vom Deutschen Hausärzteverband konnte viele der von den Schmerzgesellschaften und den Patientenvertretern beschriebenen Probleme bestätigen: „Das Hauptproblem aus hausärztlicher Sicht sind die Schnittstellen der Versorgung. Wann überweise ich wohin? Hier funktioniert die bestehende Versorgungssteuerung nicht optimal. Wir brauchen ein gutes Netz an Schmerzmedizinern. Die müssen dann aber auch zeitnah zu erreichen sein.“ Ein möglicher Schritt in Richtung einer besseren Versorgung könnten aus Sicht von Ingrid Dänschel schmerzspezifische Selektivverträge sein. Sie verwies auf die von ihrem Verband zusammen mit dem Berufsverband der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland e.V. (BVSD) konzipierte „Versorgungslandschaft Schmerz“, für die Hausärzte und Schmerzspezialisten gemeinsam strukturierte Behandlungspfade entwickelt haben. „Kernpunkte dieses integrierten Versorgungskonzepts sind die Aufgaben- und Arbeitsteilung und Kooperation aller beteiligten Ärzte und weiteren Disziplinen mit dem Ziel, eine Schmerzchronifizierung frühzeitig zu vermeiden bzw. eine bessere Schmerzversorgung zu gewährleisten. Diagnostik, Therapie und Kooperation gehen nach einem bestimmten Algorithmus Hand in Hand“, erklärte Prof. Dr. Dr. Joachim Nadstawek, BVSD-Vorsitzender. Zugleich lenkte Nadstawek den Blick auf die schmerzmedizinische Nachwuchsproblematik: „In den nächsten fünf Jahren werden etwa zwei Drittel der derzeit tätigen Schmerzmediziner in den Ruhestand gehen, und es gibt fast keinen Nachwuchs. Die Sicherstellung der Versorgung ist deshalb akut gefährdet.“
Organisation, Koordination, Strukturen schaffen
Die Realität zeige, dass man heute noch nicht annähernd von einer funktionierenden Versorgungssteuerung sprechen könne, so Prof. Dr. Bertram Häussler, Leiter des IGES Instituts. Dies zeigten die geringen Überweisungsraten und die große Zahl der unbehandelten Patienten. „Ob ein Patient an die richtige Adresse überwiesen wird, hängt davon ab, inwieweit der einzelne Hausarzt oder Facharzt über schmerzmedizinische Angebote informiert ist und wie ernst er diese nimmt.“ Prof. Dr. Hartmut Göbel, Leiter der Schmerzklinik Kiel, teilte diese Erfahrung: „Unterversorgung entsteht nicht durch fehlende Therapieoptionen. Sie entstehe durch fehlende Koordination und Vernetzung der Therapieangebote!“ Hilfreich sei aus seiner Sicht eine Anlaufstelle vor Ort, in der alle Informationen über bereits erfolgte Diagnosen und Therapien zentral gebündelt sind. Diese müsse auch die Verlaufs- und Erfolgskontrolle koordinieren und die Behandlung individuell anpassen. „Diese Schnittstelle sollte möglichst wohnortnah vorhanden sein. Sie sollte mit überregionalen Kompetenzzentren vernetzt sein. Auch diese Aufgaben erfordern einen Facharzt für Schmerzmedizin mit hochspezialisierten Qualifikationen.“
Laut Dr. Silvia Maurer, Vizepräsidentin der DGS, trifft dieser Kritikpunkt komplementäre Fachgebiete wie die Psychotherapie gleich in zweifacher Hinsicht: „Die Unterscheidung zwischen psychologischen und ärztlichen Psychotherapeuten ist schon schwer zu verstehen. Unter letzteren findet ein Patient nur schwer bis gar nicht heraus, wer mit Schmerzpatienten arbeitet, da es keine adäquate Bezeichnung dafür gibt.” Anders sei es bei den psychologischen Psychotherapeuten, die eine Fortbildung von der Deutschen Gesellschaft für psychologische Schmerztherapie und Forschung (DGPSF) durchlaufen können. „Diese Schmerzpsychologen wären zwar für den Patienten über die DGPSF zu finden – aber es gibt in ganz Deutschland nur 265 von ihnen. In Rheinland-Pfalz zum Beispiel sind es 26 – und die dürfen ausschließlich erwachsene Patienten behandeln. Das reicht einfach nicht.”
Wohnortnahe Versorgung
Dr. Johannes Fechner, stellvertretender Vorsitzender der KV Baden-Württemberg, erklärte: „Der Hausarzt muss die erste und wohnortnahe Anlaufstelle sowie Basis der schmerzmedizinischen Versorgung sein.“ Konkrete Nachfolgeprobleme schmerzmedizinischer Vertragsarztsitze könnten aus seiner Sicht lokal gelöst werden, wenn die neue Bedarfsplanungsrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses entsprechende Öffnungsklauseln vorsehe und Kassenarztsitze bei schmerztherapeutischer Qualifikation auch fachgebietsfremd nachbesetzt werden können. Diese Option ist für den Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS), Dr. Gerhard Müller-Schwefe, nicht ausreichend: „Die fachgebietsfremde Nachbesetzung ist ein dürftiger Notnagel. Sie bringt keine Versorgungssicherheit und keine Flächendeckung. Sie erhält bestenfalls die bestehende Mangelversorgung, da hierdurch trotz der eklatanten Unterversorgung keine weiteren schmerzmedizinischen Einrichtungen entstehen können.“
Abgestufte Versorgung mit klaren Zuständigkeiten
Für Müller-Schwefe ist eine abgestufte Versorgungslandschaft aus freiberuflichen, ambulanten Ärzten das einzige Modell, das geeignet ist, eine flächendeckende Schmerzversorgung sicherzustellen. Erste Anlaufstelle wäre in diesem Modell der Hausarzt, der einen Fachkundenachweis Schmerzmedizin haben sollte. Fachärzte mit der Zusatzbezeichnung Schmerztherapie sowie ein von DSL, DGS und dem BVSD geforderter Facharzt für Schmerzmedizin bilden für Müller-Schwefe die nächsten Ebenen.
Schmerzmedizin muss in die Bedarfsplanung
Umsetzen lässt sich eine solche abgestufte Versorgung nur, wenn der Bedarf an Schmerzmedizinern systematisch ermittelt und gedeckt wird. „Die Schmerzmedizin muss Teil der Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigungen werden“, so Müller-Schwefe. Bedarfsplanung und Sicherstellung der Versorgung orientieren sich an Facharztbezeichnungen. Da bisher kein Facharzt für Schmerzmedizin existiert, gibt es bundesweit in keiner einzigen Kassenärztlichen Vereinigung eine schmerzmedizinische Bedarfsplanung und somit auch keine Sicherstellung der Versorgung. Alle Teilnehmer des Forums waren sich einig, dass derzeit der Bedarf an Schmerzmedizinern nicht annähernd gedeckt ist. Es sei auch nicht sichergestellt, dass Arztpraxen mit schmerzmedizinischem Schwerpunkt diesen Schwerpunkt behalten, wenn der bisherige Praxisinhaber in den Ruhestand geht. Der Grund: Arztsitze dürfen nur innerhalb der Facharztdisziplinen nachbesetzt werden.
Quelle:
Nationales Versorgungsforum Schmerz der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS), des Berufsverbands der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland e.V. (BVSD) und der Deutschen Schmerzliga e.V. (DSL) „Schmerzmedizinische Versorgung ambulant und wohnortnah“, 12. November 2015, Berlin