Vor Sonntag zu sagen

Eigentlich gleicht meine Praxis einem Schmelztiegel unterschiedlichster Nationen: deutsch, polnisch, ukrainisch, montenegrisch, irakisch, syrisch, türkisch, marokkanisch, eritreisch – Menschen mit den unterschiedlichsten Biographien arbeiten hier miteinander oder haben das getan. Immer auf Augenhöhe, immer kollegial. Und gibt es einmal Streit, sind vielleicht Brötchenkrümel am Arbeitsplatz der Grund, nie aber die Herkunft, erst recht nicht die Hautfarbe einer Kollegin.
Und trotzdem spüre ich eine schleichende Veränderung in meinem Team. Sie sprechen von mulmigen Gefühlen, sind verunsichert, haben bisweilen sogar Existenzängste.
Ist es schon wieder Fünf Minuten vor Zwölf?
Hat es mit dem schon so lange quälenden Krieg in der Ukraine zu tun? Hängt es mit der vorgezogenen Bundestagswahl zusammen? Klar ist ja, auch nach dem Sonntag wird es einen Montag geben, unabhängig vom Wahlausgang. Nur was, wenn die Weichen gestellt werden für eine Gesellschaft, in der überhaupt keine Uhr mehr tickt? Kein Zeiger mehr warnend auf »Kurz-vor-Ultimo« stehen kann? Wenn jedes Maß fehlt?
Wir haben die Wahl und können die Richtung mitbestimmen. Ich, zum Beispiel, werde mich vehement für ein Land der Vielfalt einsetzen, in dem Sicherheit, Wohlstand und Freiheit nicht den »Primär-Deutschen« (was für eine widerliche rassistische Vokabel) vorbehalten ist, sondern allen Menschen die hier leben – ob vorübergehend oder für immer!
Streitigkeiten werden bei uns im übrigen immer »in der Sache hart, aber im Ton freundlich« ausgetragen – auch wenn es um Krümel geht oder um Brösel oder um Brosamen. Hauptsache, die fegt jemand weg…

In diesem Sinne
Ihre
Dr. Astrid Gendolla

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